Noten sollten kein Aushängeschild sein
Am Freitag gab es Zeugnisse in NRW. Vielleicht passt es thematisch nicht hier her, aber unser Zeugnissystem und das Streben nach Leistung haben mich persönlich lange von dem Job abgehalten, den ich heute lebe und liebe, daher passt es vielleicht doch irgendwie. Vielleicht hilft dieses Statement Eltern dabei, die Leistungen ihrer Kinder zu beurteilen, Lehrern, zu erkennen, welchen Einfluss sie haben, und Berufsberatern und Personalern, zu sehen, dass Noten doch nicht alles sind:
Wenn ich an meine Zeugnisse zurückdenke, war das Einzige, das ich wohl gut konnte, Kunst. Ansonsten hielten sich meine Noten tatsächlich eher im unteren Bereich auf. Vernichtend schlecht bewertete Arbeiten gaben sich die Klinke in die Hand, Worte wie „ausreichend“, „mangelhaft“ oder gar „ungenügend“ ramponierten das eigene Selbstwertgefühl gewaltig. Lehrer schimpften, Eltern verzweifelten. Was sollte bloß aus dem Kind werden? Mein Deutschlehrer in der Oberstufe sprach sogar davon, dass ich Legasthenikerin sei und nie einen schreibenden Beruf erlernen sollte, als ich den Berufswunsch „Redakteurin“ äußerte. Wie er darauf kam? Das weiß ich bis heute nicht. Ich wählte eher aus Trotz Deutsch und Englisch als Leistungskurse, dazu Erdkunde als wirtschaftlich geprägtes und mich interessierendes Fach und Biologie, weil ich Angst vor meinem miesgelaunten Physiklehrer hatte. Und ganz unvorbereitet wurden die letzten zwei Jahre zu den besten Jahren meiner gymnasialen Schullaufbahn – und doch keine Spitzenleistung. Es blieb der Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit.
Mein Problem lag häufig in den starren Konventionen. Die richtige Lösung zu finden, fiel mir meist nicht schwer, aber den Weg dahin plausibel darzustellen. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass die Lösung x=3 lautet, wenn man nicht zeigt, wie man auf das Ergebnis gekommen ist. Gleiches galt für Gedichtanalysen und Co. Meine Analysen hatten andere Ergebnisse als die, die vorgegeben waren. Ich argumentierte, warum ich es so verstand, doch tatsächlich bekam ich Arbeiten zurück, unter denen stand: „Nicht meine Meinung. Mangelhaft.“ Und es lag nicht am mangelnden Schreibtalent, ich schrieb Geschichten und erfand neue Fantasy-Welten, in denen andere ihre eigenen Geschichten platzierten, bekam im Internet viel Anerkennung für das, was ich tat und konnte.
In der Oberstufe wurde es lockerer, doch als zweite Stufe im Zentralabitur hatte ich auch dort damit zu kämpfen, dass Lösungen starr vorgegeben waren. Die Gedichtanalyse im Deutsch-Abitur habe ich befriedigend erfüllt, in Englisch konnte ich mit wirtschaftlichem Denken punkten, ebenso in Erdkunde.
Ich verließ das Gymnasium ohne Perspektive und bewarb mich auf Ausbildungen, die einen Hauptschulabschluss verlangten, da ich mir zu lange habe einreden lassen, dass ein mittleres Abiturzeugnis eigentlich nix wert sei. Problem mit einem 3,0-Abitur? Es ist nicht gut – aber auch nicht schlecht.
Ausbildungsbetriebe mit niedrigeren Abschluss-Anforderungen sahen die Gefahr, ich würde nur auf einen Studienplatz warten und dann verschwinden, Abitur-Ausbildungen wurden von den deutlich besseren Schülern belegt. Mich interessierende Studiengänge wie Journalismus und Co hatten einen NC. Das Arbeitsamt bedrängte mich, man würde mir keine Ausbildungsstellen vermitteln, als Abiturientin sei ich VERPFLICHTET ein Studium anzugehen. Ich solle an die armen Schüler denken, die keine so guten Perspektiven haben (Haha!).
Zwei Jahre hangelte ich mich von Praktikum zu Praktikum und Aushilfsjob zu Aushilfsjob, kassierte über 200 Absagen auf Ausbildungsplätze, begann ein Studium, um meiner „Pflicht“ gerecht zu werden, merkte dort wieder, dass ich zu sehr Praktikerin bin und in theoretischen Abfragen wieder schlechte Ergebnisse herauf beschwor.
Und dann kam der Tag, an dem ich alles hinterfragte. Ich war schon über 20 und hatte in den letzten Jahren nur auf die Vorgaben gehört, die fremde Menschen mir machten. Lehrer, die sagten ich könne nicht schreiben, Berufsberater, die an mein Gewissen appellierten. Wo blieb ich bei dem Ganzen? Wo blieb mein Vorteil? Wo waren die Menschen, die auf mich Rücksicht nahmen?
Ich schmiss hin… und fing von vorne an. Ich entdeckte zwei Anzeigen für die Ausbildung zur Marketingkauffrau.
- Kreativ sein? Konnte ich schon immer.
- Schreiben? Konnte ich schon immer.
- Organisieren? Konnte ich schon immer.
- Wirtschaftlich denken? Konnte ich schon immer.
Ich bewarb mich auf beide Stellen und bekam innerhalb von zwei Tagen zwei Vorstellungsgespräche und kurz darauf zwei Zusagen. Nicht wegen der Zeugnisse, sondern weil ich mich getraut hatte, von der Norm abzuweichen. Meine Bewerbungen waren jeweils eine Kurzgeschichte, wie ich die Stellenanzeige entdecke, die Bewerbung schreibe und schließlich abschicke.
Das ist nun ein paar Jahre her und heute? Heute schreibe ich immer noch, als Texterin und Redakteurin. Ich bin ein Jahr nach der Ausbildung in die Selbstständigkeit gestartet und habe Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten. Es war richtig, auf mich und meine Wünsche zu hören, und ich hätte mir zwei wirklich schlechte Jahre mit starker Perspektivlosigkeit und viel negativer Rückmeldung ersparen können, wenn ich genau das früher getan hätte.
Liebe Eltern: Ihr habt Wünsche für eure Kinder, das verstehe ich. Aber hört ihnen zu, schaut auf Ihre Fähigkeiten und Ihre Interessen. Vielleicht liegt dort schon jetzt der Schlüssel zu ihrem (beruflichen) Glück.
Liebe Lehrer: Ja, es ist schwer, bei Hunderten von Schülern jeden Einzelnen zu fördern, aber bedenkt bitte: Es sind Menschen, die vor euch sitzen. Junge Menschen, die im körperlichen und geistigen Umbruch sind, verletzlich, beeinflussbar und auf der Suche nach sich selbst. Tretet lieber ein Stück zurück als auf ihnen herum.
Liebe Berufsberater: Unterstützt die Menschen, die vor euch sitzen. Wenn euch das Helfen keinen Spaß macht dann nutzt euer Netzwerk und sucht euch einen Job, der euren Vorstellungen mehr entspricht. Ihr geht am Ende des Abends nach Hause und lasst die Statistik für euch sprechen, sie gehen nach Hause und erkennen, dass sie nur eine Zahl unter vielen sind.